Dunkelheit. Schwere. Müdigkeit.
Ich liege im Bett. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schon dort liege. Es muss eine Ewigkeit sein. Vielleicht Tage? Wochen? Oder doch nur ein paar Minuten?
Ich habe völlig das Zeitgefühl verloren – versunken in meinen Gedankenstrudel. Tränen laufen mir über die Wangen, doch ich fühle nichts.
Nichts außer diese Schwere.
Sie legt sich auf meinen Körper. Sie erdrückt mich beinahe. Sie nimmt mir den Atem. Sie macht mein Leben lebenslos. Sie macht mich lebenslos.
„Au …“, kriecht ein Laut aus meinem Mund. Es klingt nicht nach meiner Stimme. Aber vielleicht irre ich mich auch und weiß nicht mehr, wie meine Stimme klingt. Allerdings erinnere ich mich an etwas anderes. Etwas, das ich schon lange vergessen hatte. Ein Gefühl. Dieses Gefühl. Es ist ein scharfes Ziehen an meiner Haut.
Schmerz …
Dieses Gefühl kenne ich. Das Messer auf der Haut. Der Druck, wenn es tiefer und tiefer geht, bevor die Klinge in die Haut eindringt.
„Was machst du da, Pia?“
Ich schrecke hoch und starre zu der alten Frau. Sie steht neben meinem Bett mit einem skeptischen Blick. Ihre Haare sind weiß wie der Schnee und ihre Augen blau wie der Wintermorgen. Sie schaut mich an. Schaut tief in meine Seele hinein.
„Wer bist du?“, frage ich. Meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch im Wind. Doch die alte Frau scheint mich zu verstehen. Sie setzt sich an mein Bett und nimmt das Messer behutsam aus meiner Hand. Ich bemerke die kleinen goldenen Glocken an ihrer Halskette. Sie klimpern leise, wenn sie sich bewegt.
Schweigend und mit einem warmen Lächeln auf den Lippen legt die alte Frau ihre Hände um mein Handgelenk. Ihre Haut ist überraschend weich und warm, beinahe heiß. Die Wärme, die von ihren Händen ausgeht, füllt meinen Körper. Langsam kriecht sie sich durch meine Adern.
„Ich bin Josefine“, sagt die alte Frau. „Du kannst mich Fini nennen, wenn du willst.”
„Was machst du hier?“, will ich wissen.
Josefine zuckt mit den Schultern und ein freches Grinsen umspielt ihren faltigen Mund. Auch wenn sie alt scheint, wirkt sie nicht so.
„Ich habe nach dir gesucht, Pia. Denn ich habe ein Geschenk für dich.”
„Ein Geschenk?“, frage ich. Verwirrung sprudelt durch meinen Kopf. Tausend Fragen drängen sich durch meinen Hals und wollen hinaus gelassen werden. Aber die Schwere drückt sie nieder. Langsam, aber beständig.
Josefine nickt. „Ja, ich habe vier Geschichten für dich.“
Ich nicke, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wer diese Frau ist und was sie in meinem Zimmer macht. Doch ihre Gegenwart tut mir gut. Sie beruhigt mich und Josefine scheint das zu spüren, denn sie lächelt mich an.
Dann räuspert sie sich, streicht mir zärtlich über den Kopf wie meine Uroma es oft getan hat und beginnt zu erzählen …

Es war einmal eine kleine Biene namens Bibi. Bibi lebte in einem großen Bienenstock mit einer wunderbaren Bienenkönigin. Jeder liebte die Königin und jeder wollte ihr beweisen, was für ein fleißiges Bienchen man doch war. Auch Bibi wollte der Königin dies beweisen.
Jeden Tag flog Bibi aus dem Bienenstock und bestäubte alle Blumen, die sie konnte. Sie raste von einer zur anderen und versuchte anderen Bienen zuvor zu kommen. Eines Tages schaffte sie es endlich: sie hatte die meisten Blumen bestäubt. Bibi war richtig stolz auf sich und auch die Bienenkönigin war stolz. Sie lobte Bibi für ihren Fleiß und Bibi fühlte sich wunderbar. Sie war noch nie so glücklich gewesen. Sie nahm sich vor, dass sie jetzt jeden Tag so viele Blumen bestäuben würde. Denn sie wollte, dass die Bienenkönigin weiterhin so stolz auf sie war. Sie wollte, dass die Bienenkönigin sie zwischen all den anderen Bienen bemerkte.
Also raste Bibi den nächsten Tag über die Wiesen und wie schnell sie war! Niemand konnte mit ihr mithalten. Sie flog schneller und weiter als alle anderen. Ihre Flügel waren flink und die anderen Bienen beneideten sie dafür. Als die Bienenkönigin Bibi erneut lobte sie und ihr sagte, dass Bibi ihre Lieblingsbiene wäre, platzte Bibi fast vor Stolz.
So vergingen Tage und Bibi merkte wie ihre Flügel und Beinchen müder wurden. Sie gönnte sich keine Ruh, denn sie wollte die Bienenkönigin nicht enttäuschen. Doch weil sie so müde war und nicht aufpasste, wohin sie flog, knallte sie – Zack! – an einen Zaun. Bibi schrie auf vor Schmerzen, als sie merkte, dass einer ihrer Flügel gebrochen war. Sie weinte bitterlich, als die anderen Bienen sie rasch zum Bienenstock zurück trugen.
Es dauerte lange bis ihre Flügel verheilt waren. Bibi war am Boden zerstört und unermesslich traurig, während sie darauf wartete endlich wieder fliegen zu können. Wie sollte sie denn so fliegen und die Bienenkönigin stolz machen?
Als ihr Flügel endlich geheilt war, war Bibi fest entschlossen wieder genauso schnell zu sein wie zuvor. Sie wollte wieder von der Bienenkönigin bemerkt werden. Sie wollte, dass diese stolz auf sie war. Denn die Bienenkönigin hatte sie nicht einmal besucht. Sie hatte sie bereits vergessen, weil sie nicht mehr so fleißig gewesen war. Das konnte Bibi nicht zulassen.
Hastig machte sie sich daran so schnell zu fliegen wie zuvor. Aber das ging nicht mehr. Ihr Flügel schmerzte noch schrecklich und sie würde nie mehr so schnell und flink sein können. Eine Welt brach für Bibi zusammen. Was sollte sie denn nun tun? Was machte das Leben noch für einen Sinn, wenn sie nicht genauso fleißig sein konnte wie alle anderen?
Bibis bitterliches Weinen lockte eine alte Biene an. Sie flog langsam und gemächlich. Sie hatte es nicht eilig. Sie summte zu Bibi hinüber und fragte sie, warum sie denn so weinte. Bibi schüttete ihr Herz aus und die alte Biene lauschte aufmerksam. Als Bibi geendet hatte, lächelte die alte Biene.
„Ich weiß, was dein Problem ist“, sagte die alte Biene.
„Ja, meine dummen Flügel“, jammerte Bibi. Die alte Biene schüttelte den Kopf.
„Nein, nein. Das ist es nicht. Dein Flügel ist wunderbar so wie er ist.“ Die alte Biene stieß Bibi gegen die Brust. „Hier liegt dein Problem. Du suchst dein Glück bei anderen und nicht dir selbst. Du brauchst niemanden, der stolz auf dich ist, wenn du es auf dich selbst bist.“
Die alte Biene zwinkerte Bibi zu und schwirrte dann davon. Bibi blieb für einen Moment still und dachte über die weisen Worte nach.
„Die alte Biene hat Recht“, beschloss Bibi, als sie nicht mehr weiter weinen konnte. Sie bewegte ihre Flügel. Sie lächelte und flog zu der alten Biene. Sie flog langsamer als sonst und schaute sich um.
Sie entdeckte all die wunderschönen bunten Blumen, hörte den Summen der anderen Bienen zu und genoß die Sonne auf ihren Flügeln. All die Schönheit war ihr nie bewusst gewesen, als sie immer so gehetzt gewesen war.
„Das habe ich alles verpasst!“, stellte Bibi erstaunt fest und nahm sich vor, dass sie ab sofort nicht mehr das fleißigste Bienchen, sondern das glücklichste Bienchen sein würde.
Josefine lächelt mich an. „Nun, Pia, was möchtest du sein in deinem Leben? Das fleißige oder glückliche Bienchen?“
Ich zögere und die Schwere in meinem Körper flüstert mir zu, dass egal, was ich bin, ich bin es nicht wert. Ich kann nicht glücklich werden. Ich kann auch nicht fleißig sein, denn die Schwere verhindert es. Sie übernimmt die Kontrolle.
Tränen brennen in meinen Augen. Josefine streicht mir wieder über den Kopf.
„Gut, lass die Tränen raus, Pia. Lass alles raus. Das ist gut.“ Sie zwinkert mir zu und wischt mir eine Träne von der Wange.
„Ich habe noch eine Geschichte für dich. Möchtest du sie hören?“
Ich nicke.
Fortsetzung folgt …
Gewidmet meiner verstorbenen Uroma Josefine