Schrift!
Dieses Wort verursacht mir bis heute einen kleinen Knoten im Magen. Einen Knoten aus “Alter, ernsthaft jetzt?!”-genervt und “Oh, nein. Nicht schon wieder … warum?”-enttäuscht.
Die gute alte Schulzeit oder, was dein inneres Kind prägt
Als ich in die Grundschule kam, gab es bei uns noch Noten für’s Schreiben. Wenn du zu denjenigen gehörst, die das nicht hatten, denkst du dir jetzt wahrscheinlich: „WTF?! Wieso sollte man das bewerten?“
Genau das denke ich mir heute auch und wahrscheinlich alle, die das mit und vor mir durchgemacht haben.
Ich verstehe, dass man schreiben lernen muss und das möglichst leserlich. Obwohl, wenn wir ganz ehrlich sind, dann haben manche Leute echt eine Sauklaue und leserlich kann man so was nicht nennen.
Der Witz oder sagen wir die Ironie dabei ist, dass, wenn man in eine höhere Schule kommt, völlig egal ist, ob man die perfekte Schreibschrift nach Lehrbuch beherrscht. Da schreib jeder, wie er will. Hauptsache der Lehrer kann es lesen. Aber ich schweife ab …
„Schrift!“ – Die Bedeutung für das innere Kind
Meine Lehrerin damals gehörte zu dem strengen Ich-mache-alles-nach-Lehrbuch-Typ. Wenn es ihr nicht gefallen hat, wie ich geschrieben habe, dann hat sie “Schrift!” in roten, leuchtenden Buchstaben in meinen Heften angemerkt.
Was dieses schreckliche Wort bedeutet?
Nochmal schreiben. Und nochmal und nochmal, bis die Lehrerin es für “okay” empfindet.
Ich musste sehr oft – eigentlich ständig – Einträge nochmal schreiben. Egal, wie viel Mühe ich mir gegeben habe, es hat nie ausgereicht.
Nochmal schreiben. Und nochmal und nochmal.
Einmal habe ich einen Text sooft schreiben müssen, dass meine Mama beschlossen hatte, diesen für mich zu schreiben. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie am Tisch saß und mit meinem Füller geschrieben hat.
“So, das habe ich jetzt in meiner schönsten Sonntagsschrift geschrieben. Da kann sie jetzt nichts mehr sagen”, erklärte meine Mama stolz, während ich mir Sorgen machte, ob meine Lehrerin den “Schrift-Schwindel” erkennen würde. Ich wollte keinen Ärger bekommen.
Meine Lehrerin hat es tatsächlich nicht bemerkt. Worüber ich unglaublich erleichtert war und was mich bis heute noch wundert, wenn ich ehrlich bin.
Ihr Urteil: ganz passabel
In anderen Worten: Das geht gerade noch durch.
Ihr könnt euch wahrscheinlich vorstellen, wie sich meine Mama aufgeregt hat. Doch sagen konnte sie ja nichts, weil dann hätte sie zugeben müssen, dass sie meinen Text geschrieben hatte.
„Schreiben, rechnen, … was kann ich überhaupt?“, fragt sich das innere Kind
Doch es sollte nicht nur bei meinem „Schrift“-Problem bleiben. Meine Lehrerin hat meiner Mutter auch nahe gelegt, dass sie mich auf die Förderschule schicken sollte.
Und nein, das lag nicht daran, dass ich nicht nach Lehrbuch schreiben konnte. Das wäre schon ziemlich krass. So hardcore war die gute Frau X nicht. 😀
Ich hatte zusätzlich noch Probleme beim Rechnen, Rechtschreibung (Meine Diktate sahen aus wie ein Schlachtfeld mit all den roten Korrekturen), deutscher Grammatik, … usw.
Allen in allem kann man sagen, dass ich zu den schlechtesten und langsamsten Kindern in der Klasse gehört habe. Ich hatte eben Lernschwierigkeiten und meine Lehrerin meinte damals, es wäre das Beste, wenn ich auf die Förderschule gehen würde.
Meine Mama hat das wiederum nicht akzeptiert und hat sich stattdessen mit mir zum Lernen hingesetzt.
Jeden Tag.
Jeden einzelnen verdammten Tag bis ich besser und besser geworden bin.
In der vierten Klasse habe ich dann zu den vier besten Schülern gehört und Mathe wurde später sogar zu einem meiner Lieblingsfächer neben Kunst und Latein. Mit Deutsch hatte ich länger zu kämpfen, aber in der Kollegstufe sollte sich das dann ändern.
Die Moral für das innere Kind
Wenn ich heute an meine Grundschulzeit und meine Lehrerin denke, dann kann ich nur den Kopf schütteln und schmunzeln. Aber als Kind hat sich damals in meinem Kopf festgesetzt, dass ich nie schön schreiben werde können. Dass meine Schrift nicht gut genug ist. Dass ich nicht rechnen kann. Dass ich nicht schreiben kann.
Dass ich schlicht und ergreifend nicht gut genug bin.
Denn als Kind bist du noch nicht so selbstrelfektiert, dass du erkennst „Oh, warte. Das definiert nicht meinen Selbstwert“. Als Kind bist du auf die Erwachsenen angewiesen, die einen die richtigen Werte vermitteln. Die einen helfen, seine eigenen Stärken zu erkennen. Die als Vorbild agieren und zeigen, was richtig und falsch ist.
Was Erwachsene sagen und wie sie handeln, kann ein Kind prägen. Im schlechten oder guten Sinne. Das Tückische dabei ist, dass dies alles Unterbewusst passiert und dass man darauf natürlich nicht achtet, wenn man aufwächst.
21 Jahre später laufe ich durch Vancouver und erkenne jetzt, was die Lehrerin damals in mir angerichtet hat. Ich erkenne, was sie unbewusst meinem kleinen Mädchen eingeredet hat. Ja, unbewusst.
Das hier soll kein „Du bist Schuld!“-Artikel werden. Ich möchte nicht mit Fingern auf die Erwachsenen deuten, die mir die falschen Glaubensätze eingepflanzt haben.
Erstens macht man das nicht.
Und zweitens kann man sich nicht davon befreien, wenn man die Schuld bei anderen sucht und sich in seinem „Oh, ich Arme! Ich war das Opfer!“ sult.
Glaub mir, ich hab das probiert. Es funktioniert nicht. Das Einzige, was daraus folgt, ist noch mehr Frust, Wut und Selbstgeiselung. Also, pfui, aus und Schluss damit! 😉
Sei ein Phoenix!
Natürlich habe ich nicht nur schlechte Glaubenssätze wie „Du bist nicht gut genug“ oder „Du kannst nicht schreiben“ in mein Unterbewusstsein sickern lassen, sondern es gab auch gute, die mir geholfen haben.
Ich habe zum Beispiel in der Grundschule schon gelernt, dass, wenn man sich hinsetzt und lernt, dass man alles schaffen kann. Dass man geduldig an sich arbeiten sollte und nicht aufgibt. Nicht alles war „schlecht“. 😉
Wenn du dann schlechte von den guten Glaubenssätze erkennst, dann kannst du diese brechen. Du kannst daraus lernen und sie mit besseren ersetzen. Irgendwann kannst du sogar dankbar dafür sein, denn sie haben die wertvolle Erfahrungen im Leben geschenkt.
Vielleicht musst du dich trauen tief in deinem Inneren zu buddeln. Du muss in die Ecken deiner Selbst schauen, die du eigentlich nur verdrängen willst oder die du lange verschlossen gehalten hast.
Das kann schmerzhaft werden. Das kann langwierig werden. Das kann scheiß Angst machen. Ich weiß.
Aber, wenn du diese „Altlasten“ radikal niederbrennst, kann du wie ein Phoenix aus der Asche auferstehen.
Nur so kannst du zu dem Menschen werden, den du als Kind gebraucht hättest. Nur so kannst du dein inneres Kind heilen.
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