Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Gedankensalat schreiben soll. Es fällt mir tatsächlich nicht leicht. Wahrscheinlich, weil ich mich immer noch verletzlich fühle, es laut auszusprechen oder darüber zu reden. Tatsächlich hat es mir auch Angst gemacht, es öffentlich zu machen.
Aber ich möchte ehrlicher zu mir selbst und zu anderen sein. Ich möchte mich meinen Ängsten stellen, mutiger sein und meine Erfahrungen teilen. Denn vielleicht hilft es ja jemanden, auch mutiger und ehrlicher zu sein.
Habt ihr eigentlich auch das Gefühl, dass vielen Leuten das Thema “Therapie” unangenehm ist?
Denn wer möchte sich schon vor anderen eingestehen, dass er Hilfe braucht? Wer möchte schon sagen, dass er regelmäßig zum “Seelenklempner” geht? Pff … nein, ich doch nicht! Ich brauche das nicht! Ich hab doch keinen Knall … ich bin doch nicht depressiv!
Na, kommt euch das bekannt vor? Habt ihr solche Aussagen auch schon gehört? Ich habe es.
Mittlerweile kann ich dazu nur die Augen verdrehen und den Kopf schütteln. Ich verstehe nicht, warum es immer noch Leute gibt, die so abwertend über Therapie sprechen. Ist das die Angst davor, die aus ihnen spricht? Die Angst, sich wirklich mit sich selbst zu beschäftigen?
Wenn man sich auf eine Therapie einlässt, erfährt man viel über sich und lernt, was einen bewegt und was für unbewussten, antrainierten Mustern man folgt, die einen unglücklich machen können. Ich würde wirklich jeden dazu ermutigen, sich darauf einzulassen. Man kann nur dazu gewinnen! Für sich und für andere.
Bis der Damm bricht aka die dunkle Seite ist stark in dir
Ja, heute bin ich eine mutige, selbstbewusste und selbstliebende Frau, doch vor zwei Jahren war das anders.
Ich muss gestehen, dass ich lange niemanden außer meinen engsten Freunden erzählt habe, dass ich in Therapie gehe. Ja, nicht mal meiner Familie. Aber das ist ein anderes Thema.
Bis vor ein paar Tagen wussten nicht mal meine Mutter, dass ich 1,5 Jahre Therapie gemacht habe. Wie ihr seht, lerne auch ich immer noch dazu und versuche jeden Tag ein wenig besser und ehrlicher zu mir selbst und anderen zu sein.
Während den 1,5 Jahren in Therapie hatte ich allerdings nie den Mut gehabt, mit meiner Familie oder anderen Leuten darüber zu reden.
Warum? Weil ich mich dafür geschämt habe. Weil es mir peinlich war. Denn wer mich persönlich kennt, der kennt mich als einen ausgeglichenen und stets gut gelaunten Menschen.
Jemanden, der sehr aufmerksam ist und gut zuhören kann.
Jemand, der immer versucht andere aufzumuntern und ihnen ein Lachen zu entlocken.
Jemand, der nicht offen über seine Gefühle spricht und stets die “Starke” ist.
Jemand, der alles herunterschluckt – mühsam, aber beständig bis es unerträglich wird.
Jemand, der nie gelernt hat, eine ehrliche und offene Unterhaltung über die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu führen.
Denn dafür war ich ja nicht wichtig genug, richtig? Wen interessierte es schon wirklich, wie es mir ging? Es interessierte ja nicht mal mich selbst … und warum sollte ich das Bild der “starken Jule” zerstören?
Wenn aber diese emotionale Knoten, die ich über Wochen, Monate oder Jahre so beständig ineinander verflochten habe, geplatzt sind, dann aber richtig! Der Urknall war nichts dagegen, Leute.
Dann konnte ich nur noch unter Tränen und heftigen Schluchzen sagen, was los war. Wenn ich überhaupt reden konnte. Das ist nämlich etwas schwierig, wenn man innerlich zerbrochen ist und der Kopf keine klaren Gedanken mehr fassen kann.
Da bricht der Damm einfach und so sehr man versucht, die Fluten zurückzuhalten, es gelingt einem einfach nicht. Stattdessen wird man einfach weggeschwemmt.
Bye, bye, “starke Jule”!
Das Schlüsselerlebnis oder, als ich beschlossen habe, dass ich Hilfe brauche
Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich beschlossen habe, dass ich es nicht mehr alleine schaffe. Als ich mir eingestanden habe, dass ich Hilfe brauche, dass die Mauer um mich zu stark war, um sie selbst einzureißen und dass mein emotionaler Sturm zu heftig war, um ihn alleine zu bändigen.
Es war der dritte Weihnachtsfeiertag und ich war bereits wieder auf den Weg zurück nach München, weil ich es nicht mehr bei meiner Familie ausgehalten habe. Ich raste über die Autobahn und konnte nicht schnell genug fahren, um meinen Gefühlen zu entkommen. Gedanken sprudelten durch meinen Kopf und ich fühlte mich wie in einer Zwangsjacke eingeschlossen.
Solange schon rannte ich vor meinen Gefühlen davon. Vor meiner Familie. Einfach nur weg.
Weg.
Plötzlich brach ich in Tränen aus. Mitten auf der Autobahn bei knapp 180km/h. Meine Arme begannen zu zittern und ich schluchzte unkontrollierbar.
Ich wurde wütend.
“Warum heulst du denn jetzt?!”, schimpfte ich mich laut und fuhr etwas langsamer weiter, weil ich Angst hatte, auch noch die Kontrolle über das Auto zu verlieren.
“Alter, Jule! Jetzt reiß dich zusammen! Hör auf zu heulen!”
Ich heulte weiter. Haltlos und laut. Bis ich keine Tränen mehr hatte und nur noch vor mich hin schluchzte. Ich konnte einfach nicht aufhören. Meine Finger umklammerten das Lenkrad und mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust.
Meine Gefühle und alles, was ich über die Jahre unter Wut und Frust verdrängt hatte, traf mich mit aller Wucht. Es war wie Steine, die mich erschlugen.
“Ich schaffe es nicht mehr alleine”, gestand ich mir flüsternd ein. “Ich kann das nicht mehr … ich … ich brauche Hilfe.”
Kurz darauf suchte ich eine Therapeutin auf, die mir eine sehr gute Freundin empfohlen hat. Hier auch nochmal ein kurzer Dank an eben diese Freundin, die mit mir offen über ihre Therapie gesprochen hat und mir den Mut und die Zuversicht gegeben hat, das zu machen. Danke!
Vor der ersten Stunde hatte ich unglaublich Angst und Zweifel nagten an mir:
Was genau machst du hier? Immerhin bist du nicht wirklich depressiv oder so … also, du hast schon manchmal so Downphasen, aber deswegen bist du ja nicht depressiv.
Deine Probleme sind doch super klein im Vergleich zu anderen Leuten. Jetzt nimmst du denen den Therapieplatz weg, weil du bissle rumgeheult hast …
Kennt ihr diese Stimme? Die ist ein ziemlicher Drecksack und ich nenne sie liebevoll auch so. Mittlerweile kann ich darüber lachen, aber damals war das natürlich nicht lustig, sondern eine ernsthafte Unterhaltung, die ich mit mir selbst geführt habe.
Wenn ich das jetzt lese, wird mir bewusst, wie klein mein Selbstwertgefühl war, wie klein ich mich gemacht und wie “unwürdig” ich mich gesehen habe. Ich meine …
Da fuck, Vergangenheits-Jule? Du bist eine verdammte Wonder Woman und du bist es dir wert! Hol dein fucking Lasso und sei ehrlich zu dir selbst!

Meine Heldenreise
Doch schon nach der ersten Sitzung mit meiner großartigen Therapeutin, der ich bis heute sehr dankbar bin, wusste ich, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Die 1,5 Jahre waren nicht immer leicht gewesen. Verdammt, sie waren scheiß emotional anstrengend gewesen, wenn ich ehrlich bin.
Ich denke, jeder der auch schon eine Therapie hinter sich hat, weiß, wie viel das aufwühlt und wie krass es manchmal ist, wenn einem der Spiegel vorgehalten wird.
Manches hätte man gerne weiterhin tief vergraben in sich selbst. Manches schmeißt man mit Freuden endlich weg und denkt sich, so eine Kacke brauche ich nicht!
Und der stetige Kampf mit seinen alten Mustern, die man dank der Therapie endlich erkennt, die aber automatisch immer wieder aufploppen und freudig das Lenkrad übernehmen wollen, ist mühsam und auslaugend.
Die Therapiejahre waren ein stetiges auf und ab für mich. Vor allem emotional. Ein beständiger Kampf und ein ständiges Hinterfragen meiner Selbst, während das alte und das neue Muster in mir ein erstklassiges Wrestling Match hinlegten.
Da wurde wirklich alles geboten: Von erdrückenden Selbstzweifeln, Frust, Wut, schlummernden Aggressionen bis hin zum Entdecken lustiger Macken, humorvollen Taktiken gegen die Drecksack-Stimme oder tiefer Dankbarkeit und dem Verzeihen sich selbst und anderen gegenüber.
Aber wie Freddie so schön singt: The show must go on!
Denn nur, weil man die alten Muster erkennt, heißt das nicht, dass die auf einmal weg sind und einen in Ruhe lassen. Nein, denn diese kleinen Nervensägen sind über die Jahre hart antrainiert worden und sind geniale Automatismen, die in bestimmten Situationen getriggert werden. Stellt es euch vor, wie eine nervige Fliege, die euch dauernd ins Gesicht fliegen muss und euch einfach nicht in Ruhe lässt.
Man lernt aber über die Jahre immer besser, diese nervige Fliege frühzeitig zu erkennen und dagegen vorzugehen.
Manchmal passiert es zwar, dass man in das alte Muster abrutscht, aber das ist okay. Solange einem das bewusst wird und man sich dann wieder rauszieht. Geduld mit sich selbst und seiner eigenen Heldenreise ist ein wichtiger und nicht zu unterschätzender Faktor. Nicht wahr, Cap?

Wenn ich die Erkenntnisse während meiner Therapie, der letzten Jahre voller emotionaler Achterbahnen und sensationellen, inneren Wrestling Shows auf eine Aussage reduzieren müsste, dann wäre es folgende:
Sei ehrlich zu dir selbst und den Menschen, die du liebst. Liebe dich, achte auf dich und vertraue deinen Instinkten, denn du bist ein/e Wonder Woman/ Man.
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